Ralph Fleck

OK
Hans-Joachim Müller
„Informel mit Ordnung”
 
Frankfurt? Nein, einen besonderen, besonders innigen Bezug habe er nicht. Dort wohnen? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Gute Erinnerungen habe er wohl an die Stadt. An einen Nebelmorgen, an einen Schneetag, an dies oder jenes Hochhaus. Jedenfalls bedeutet Frankfurt einen starken sinnlichen Reiz, sonst hätte er es nicht malen können.
 
Es ist nicht viel, was wir vom Maler Ralph Fleck über seine Bildvorwürfe erfahren. Was er malt, scheint ihn meist weniger zu interessieren als daß er malt. Man könne mit solch einem Thema alles machen. „Stadt” sei ein guter Anlaß für ihn - den Maler. Mehr nicht und nicht weniger. 1987 hatte sich Fleck schon einmal für ein paar Monate malend mit Frankfurt beschäftigt. Hat fotografiert, gesammelt, beobachtet, vergessen, erfunden. Seine Recherche ist nicht die eines Journalisten, hat nicht das Erkenntnisziel Wahrheit (im Sinn von Objektivität). Ralph Fleck zeigt sich in all seinen Bildern als retinal Infizierter, als aktives Opfer stiller und lauter Sensationen, das seine Affekte zwischen Malerauge und Malerhand aushandelt. Seine Stadtbilder ergeben also kein Bild der Stadt. Nicht um Topographie war es ihm zu tun, nicht um Geschichte, um den genius loci, nicht um Spezielles, Typisches, Wesentliches, Charakteristisches, Identifizierbares. Um Eindrücke nur, optische Erfahrungen aus einem verdichteten Erlebnisraum, um sinnliche Induktion, die den Maler wieder neu bekräftigen könnte, die Herausforderungen des leeren Blattes und der weißen Leinwand zu bestehen.
 
Malen hat für Ralph Fleck etwas Unerlässliches, Unausweichliches. Malend ist er mit sich einverstanden oder mit sich uneins. Ein Tag im Atelier, der nicht mit einem veritablen Bildergebnis abgeschlossen hat, ist kein gelungener Tag gewesen, und die Unzufriedenheit lässt sich eigentlich nur wieder an der leinwand reparieren. Alle Anzeichen sprechen für einen übermächtigen Antrieb, ergeben das Profil einer Leidenschaft.
 
Nicht, daß Ralph Fleck nun ganz und ausschließlich einer Metropole verfallen wäre. Es ist etwas Eigentümliches um die Ökonomie seiner Energien. Der Lustvorrat und das Neugierpotential, aus denen lange Sujetreihen wachsen, erscheinen fast rätselhaft unerschöpflich. Immer wieder lassen sie sich mobilisieren, scheinen noch nach Monaten, Jahren frisch. Das heißt: Fleck malt eine Serie nie zuende, kreuzt sie vielmehr mit anderen, kommt wieder auf sie zurück, lässt sich neu anregen, aufregen, beruhigen. Es hat viel mit vitalen Impulsen zu tun, mit Freiheit und sich überstürzenden Entscheidungen, was in diesem ungemein lebendigen Atelier geschieht - und gar nichts mit Strategie, Mechanik und Konzepttreue.
 
Eine Stadt aus der Luft und dann vielleicht das Matterhorn. Eine zerstörte Stadt und dazwischen eine Teichlandschaft. Brücken über einen Fluß und schnell eine „nature morte” mit toten Delphinen. Die Skyline von Manhattan und ein Schwenk über das achte Arrondissement in Paris. Wie sich einen Reim darauf machen? Am besten keinen Reim drauf machen.
 
Nichts scheint in diesem sich eruptiv ausbreitenden Werk unmöglich oder ausgeschlossen, aber auch nichts vorhersehbar oder im Rückblick irgendwie logisch. Mit breiten, dynamisch ansetzenden oder ruhige Spuren ziehenden Pinselbahnen vergittert Fleck seine Papiere oder Leinwände, transformiert die Bilder im Kopf, die Fotografien wie Notizzettel begleiten, unmittelbar in aufblühende Farbsubstanz.
Gemenge aus koloristischer Materie mit weich pulsenden und sklerotischen Zonen, in die sich das Auge, je näher es sich an sie wagt, verirrt, verliert, in denen es zu versinken droht. Ein paar Schritte Abstand zu den Bilder klären, schaffen übersicht, lösen die Gegenstände aus dem spektralen Stoff. Und genau dort fühlt sich der Maler am wohlsten: auf dem schmalen Grat zwischen Beschreibung und Abstraktion. Ralph Fleck ist nicht „Realist” mit jenem naiven Selbstverständnis, das sich noch immer zutraut oder zumutet, wider alle Zweifel an der mimetischen Tauglichkeit der Malerei, wenn schon nicht vom Menschen (die Personenarmut auf Flecks Bildern ist ja immerhin auffällig), so doch wenigstens von der Welt und ihren Gegensätzen zu handeln. Ralph Fleck versteht sich aber auch nicht als malender Transzendenzerschließer - malend womöglich auf der Suche nach den geheimen Reichen jenseits des bezeichneten Sichtbaren. „Informel mit Ordnung” hat er den Hochseilakt beschrieben, der ihn so traumwandlerisch sicher von der einen Bildbestimmung zur gegenüberliegenden und wieder zurück bringt.
 
Es ist schon richtig, daß unter der heißen koloristischen Lava, die dieser Maler fortwährend ausstößt, die Sujets geradezu verschmelzen müssen. Und das der erstbezwingende Eindruck vor seinen Bildern der schierer Farbe ist, die sich zuweilen zu ganzen Relieflandschaften aufwirft. Richtig ist aber eben auch, daß Fleck seine Bildgegenstände nicht bloß als Anlaß braucht, um mit ihnen den Malprozeß zu bewegen. Die Motive sind das eigentliche Motiv zu malen. Und die Irritation, die die offenbar programmatische Kurslosigkeit dieses Werkes stiftet, hat sehr wohl zu tun mit der Irritation, die aus dem Verhältnis des Malers zur Lebenswirklichkeit resultiert. Ralph Flecks Malerei reflektiert jenes aktuelle Empfinden, dem die immer wieder behauptete Ordnung endgültig obsolet geworden ist. Der Maler in der nachidealistischen Epoche erfährt sich heimatlos und heimatvergessen in einer Ding- und Erlebniswelt, in der sich nichts mehr hierarchisch fügt, nichts mehr selbstverständlich nach Rang und Dringlichkeit gliedert. Und aus der es auch keinen Weg mehr zurück geben kann in die metaphysische Geborgenheit, die noch hinter den Dingen und Verhältnissen eine verborgene Vernunft imaginierte. Die Dinge sind, was sie scheinen. Erscheinung ist schon alles. Und „Erscheinung” ist das zentrale Thema von Ralph Flecks Malerei. Der Bombenhagel über Frankfurt ist mithin keine Chiffre, das Bild weder Kriegsbild noch Antikriegsbild. So wenig wie die Lufthansa-Maschinen auf dem Flugplatz irgendeinen Kommentar etwa zur Spezies „Homo volans” im Spätkapitalismus abgeben mögen.
 
Triumphal hat sich in diesem Jahrhundert Walter Benjamins Vision erfüllt: Die Lebenswirklichkeit ist hinter ihrer Totalreproduktion fast unkenntlich geworden. Und ganz folgerichtig setzt auch Flecks Malerei an dieser technischen Epidermis an. Nicht nur, daß die memorierende Fotografie zu den konstitutiven Elementen des Bildermachens gehört, auch die Miniaturisierungen oder Monumentalisierungen der gewählten Ausschnitte verdanken sich viel mehr den Spielregeln der Zoom-Optik, also einem technischen Sehen, als etwa dem Bedürfnis zur Sublimation oder Pathetisierung. Die Mediengesellschaft erfährt sich lückenlos umstellt von Bildern, und Ralph Fleck ist mit seiner Generation zu skeptisch geworden, um noch an die versprochene Wirklichkeit hinter der technisch vermittelten Welt glauben zu können. Lieber besetzt er den Platz vor den eng geschlossenen Kulissen aus reproduzierter Realität. Mit seinen eigenen starken, selbstbewußten Bildern.

Der Autor ist Redakteur der Baseler Zeitung und hat diesen Text im September 1987 aus Anlaß einer Ausstellung von Ralph Fleck's „Frankfurt-Bildern” verfaßt.

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