Ralph Fleck

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Wilfried Wang
Stadtbilder - Zwischen Entfremdung und Wiedererkennung
 
Stadtbilder von Ralph Fleck zu betrachten, ohne Hinweis auf den Ort, auf den sie sich beziehen, kann bei viel gereisten Beobachtern unmittelbare Wiedererkennungsreaktionen hervorrufen: natürlich, das ist Rom, so wie man es kennt, heiß im Spätnachmittagslicht; klar, so sieht London aus: grau zur frühherbstlichen Alltageszeit; Madrid mit seinen Avenidas, die sich zwischen die mittelalterlichen Quartiere schieben; ähnlich Paris: hier mit seinen Haussmann Boulevards im Kontrast zur gewachsenen Struktur der Voraufklärungszeit; oder New York mit seinen stelenartigen Hochhäusern, die sich, aus der Ferne betrachtet, wieder zu einem Raster fügen, analog zum rationalen Stadtgrundriss. Die Bilder sind so angelegt, dass sie als Einzelstücke dem viel gereisten Betrachter genügende Erkennungsmerkmale bieten, und in der Serie reicht manchmal auch nur ein Hinweis in einem Bild, um über die sich später dann zu erschließende Physiognomie der jeweiligen Stadt hinaus Auskunft zu geben.
 
In den Serien aus den letzten Jahren entstehen immer wieder Entwicklungsreihen von offensichtlicheren zu abstrahierteren Bildern. Es ist, als würde der Maler sich und den Betrachtern immer wieder vor Augen führen, wie die Geschichte der Malerei in sich über die Jahrtausende diesen Prozess der Suche nach dem Wesentlichen birgt. Dabei ist Flecks Wahl hinsichtlich des Ausschnitts eines Stadtbildes bestimmend. Je großformatiger und markanter der Ausschnitt, desto einfacher das Wiedererkennen. Mal werden Bauwerke mit großer Bekanntheit in den Bildern einbezogen, mal stadtspezifische Topographien wie Flussläufe, Parkanlagen, Brücken. Die Serien zielen hierbei sowohl durch das Einzelbild auf das Phänomen der Entfremdung als auch durch das Betrachten der ganzen Serie auf das Wiedererkennen von Stadtstrukturen (besonders bei den Bildern zu New York).
 
In diesem thematischen Spiel zwischen Entfremdung und Wiedererkennung entfaltet sich der Maler Ralph Fleck. Pinselstärke und Farbgemisch werden so präzise gesetzt, dass sie Teil dieses Balanceaktes werden: vermengte Farben implizieren Oberflächenstrukturen wie zum Beispiel Fensterrahmen oder Fassadenornamente. Flecks Beherrschung der Technik entspricht den Beobachtungen Marco Boschinis zum Thema des pittoresco (La carta del navegar pitoresco, Venedig 1660). Nicht die absolut genaue geometrische Linienführung oder gar die Abgrenzung einzelner Farbflächen, geschweige denn stufenlose übergänge von hell zu dunkel verfolgt Fleck in seinen Bildern, sondern das Phänomen der in sich schlüssigen Stimmungen, die durch das wohlgesetzte Auftragen der Farben entsteht. Die Distanz zum Bild spielt selbstverständlich in diesem Phänomen der vermengten Wahrnehmung von Farbflächen eine besondere Rolle.
 
Dabei ist die Festlegung des Betrachtungspunkts ebenso wichtig wie die Darstellung der Objekte innerhalb des Ausschnitts. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich bei den Stadtbildern um Ansichten von einem Betrachtungspunkt aus der Luft. Faszinierend haben diese Blicke von oben auf die Betrachter schon seit ihrer ersten technischen Möglichkeit gewirkt: denken wir an die ersten Ballonfahrer im achtzehnten Jahrhundert oder an die Zeppelinpassagiere. Mit der Bedächtigkeit der relativ langsamen Geschwindigkeit der älteren Verkehrsmittel kann der Betrachter sich satt sehen. Flugzeuge erlauben nur einen kleinen Moment des Staunens, schon ist die Stadt en miniature verschwunden. Flecks Stadtbilder halten dieses Staunen an: man kann der Faszination des Betrachtens ihren Lauf lassen. Hier die kaum wahrnehmbare Veränderung des Lichts (man denkt an Monets Lichtstudien), dort die mosaikähnliche Anhäufung von ölfarben zu einer Stadthieroglyphe, und immer wieder die durch das Teleobjektiv erzeugte Dichte der Sonnen- und Schattenseiten von Bauten.
 
Selten malt Fleck Menschen, Verkehrsmittel oder überhaupt Zeichen zivilisatorischer Aneignung dieser Städte. Bei einigen Bildern entsteht daher der Eindruck, als wären diese Städte schon immer da gewesen, wie geologische Strukturen, die von einem Betrachter aus der Höhe wahrgenommen werden. Dieser entrückte Blick charakterisiert Flecks Stadtbilder: mit den heutigen optischen Mitteln positioniert sich Fleck nicht nur in eine ungewohnte Lage, sondern er verlagert sich und den Betrachter des Bildes in einen enthobenen Blickpunkt. Man schaut auf eine Stadt herab, die Stadt ist so dargestellt, als wäre sie schon immer dort gewesen, als wäre sie eine naturgegebene Erscheinung. Die so dargestellte Stadt scheint stillos und zeitlos zu sein.
 
War bei Caspar David Friedrich noch hier und da der Betrachter einer Landschaft novellenartig von oben mit in das Bildwerk eingebunden (Morgen im Riesengebirge, 1810/1811; Der Wanderer über dem Nebelmeer, um 1818; oder Kreidefelsen auf Rügen, um 1818), so wird das Bewusstsein des Betrachters in den Bildern Ralph Flecks ob seines Blickpunkts objektiviert. Deren Komposition lässt die Bauwerke als orthogonale Flächen erscheinen. Es gibt keine verzogenen Vertikalen. Die Bauwerke wirken dadurch statischer, eben wie geologisch gesetzte Wesen. An den äußeren Polen der Ausschnitte - Fernsichten und Nahaufnahmen - werden diese Farbflächen zunehmend abstrakt, bei den detaillierteren Straßenzügen überwiegt dagegen der Eindruck eines beiläufigen Festhaltens von faktisch Identifizierbarem.
 
Das Einhalten der Vertikalität in Bezug auf die Bauten hat mit der Erwartungshaltung des Betrachters zu tun, und in der Erfüllung dieser Erwartung konkurrieren die Bilder Flecks mit der Photographie. Richtig ist, dass Teleobjektive sowie die Entzerrungsmechanismen bei einigen Objektiven diese Sehgewohnheiten seit der Moderne mitbestimmt haben, aber schon die Abbilder zu Zeiten der alten ägypter oder jener der römischen Antike weigerten sich, in ihren Darstellungen und Perspektiven die Vertikalen stürzen zu lassen. Giotto und seine Zeitgenossen hielten ebenfalls starr an diesem Prinzip fest: Bauten wurden dadurch in ihrem strukturell-statischen Geist wiedergegeben.
In den Deckenmalereien Tiepolos nahmen die stürzenden Vertikalen selbstredend ihre Funktion innerhalb des trompe d'oeil wahr. Aber erst mit der Photographie werden Raum- und Formdynamik durch perspektivisch verzerrte Vertikalen ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Photographien aus der Luft, die mit unkorrigierten Objektiven aufgenommen werden, haben generell stürzende Vertikalen. Der Betrachter lässt es gewähren, da diese mit der Wirklichkeitsnähe der Aufnahmen immanent verbunden werden. Flecks Stadtbilder mit ihren absoluten Vertikalen sind also mehr als eine Erfüllung einer Erwartung, sie sind eine Kritik der Photographie.
 
Durch die konsequente Korrektur der stürzenden Vertikalen weisen einige Bilder den Grad der Abstraktion auf (siehe zum Beispiel die Stadtbilder New York), die Mondrian in seiner Bilderserie von Bäumen um 1912 entwickelte. Flecks Abstraktionen von New York sind haptischer Natur im Vergleich zu beispielsweise Mondrians Spätwerk Broadway Boogie- Woogie (1942-1943), das eine konzeptionelle Abstraktion des Broadways trotz seines markanten organischen Straßenverlaufs darstellt.
 
Großflächige, fast monochrome Teile in Flecks Stadtbildern verbinden sein Interesse am Erhabenen, das in den Alpenbildern bereits ersichtlich war. Wählt Fleck für den Vordergrund eines der New York Bilder ein die ganze Leinwandfläche dominierendes schwarzes Hochhaus aus, so versinnbildlicht dieses Hochhaus nicht nur den Wunsch nach privilegierter Aussicht, sondern drückt damit auch seinen autoritären Charakter aus. Jene vertikale Studien zum Büroquartier La Défense in Paris zeigen bewusst komponierte Ausschnitte von Hochhäusern, wie diese den Rest der traditionellen Stadt scheinbar aus dem Bild drängen; hier zeigt sich das Erhabene von seiner Furcht einflößenden Seite, wie Edmund Burke es in seiner Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (London 1757) beschrieb: „No passion so effectually robs the mind of all its powers of acting and reasoning as fear. (...) Whatever therefore is terrible, with regard to sight, is sublime too, whether this cause of terror be endured with greatness of dimension or not. (...) Greatness of dimension is a powerful cause of the sublime. (...) A perpendicular has more force in forming the sublime than an inclined plane (...)” (II. Teil, II. und VII. Kapitel).
 
Flecks Bilder geben unterschiedliche Stimmungen wieder. Auch jedes Stadtbild befasst sich, bei aller scheinbaren Sorgfalt um das faktisch richtige Licht oder um die bauliche Struktur, mit spezifischen Ambienten. In Flecks Stadtbildern geht es nicht in erster Linie um den Ausschnitt als pars pro toto im morphologischen Sinne, sondern um die Darstellung eines Fragments an Stelle einer Erfahrung von der Eigenschaft einer ganzen Stadt, wie diese sich über die verschiedenen Jahreszeiten und unter den unterschiedlichen klimatischen Verhältnissen zeigt. Deshalb malt Fleck selten Panoramen, da diese den Anschein der Vollständigkeit haben, und den Betrachter in eine missverständliche Lage versetzen, die ihn zu der Auffassung verleitet, mit dem scheinbaren Gesamtüberblick alles begriffen zu haben. Der Rundblick, eine Darstellungsweise der frühen Aufklärungszeit, impliziert Allwissen, Gewissheit, Vollständigkeit. Der Ausschnitt, wie es eigentlich in der strengen Analyse das Panorama auch nur ist, betont dagegen das Partielle, das Beschränkte, die Konzentration auf etwas Bestimmtes.
 
Würde man das Panorama zur Symphonie der Malerei erklären, so wäre der Ausschnitt die Kammermusik, wäre nicht Flecks Betrachtungspunkt in Bezug auf seine Stadtbilder in der Luft angesiedelt, der, zusammen mit der gelegentlichen dramatischen Bildkomposition, dem Erhabenen Respekt zollt. Dieser offensichtliche Widerspruch in der Analogie weist aber auch noch auf die Intensität hin, mit der Fleck Themenwahl, Betrachtungspunkt, Komposition und Darstellungsart verbindet.
 
Sind Flecks Bilder von Landschaften, den Alpen und dem Meer windumtost, aufbrausend, nebelverhangen, also dramatisch, liegen die von ihm dargestellten Städte oft scheinbar passiv vor dem Betrachter. Die sichere Distanz, aus der man auf die Stadtfragmente blickt, verstärkt den Eindruck der Ruhe. Erst in jenen Bildern, in denen abstrahierte Farbflächen vorherrschen, stellt sich eine Spannung ein, die, über die Farb- und Pinselführung hinaus, den Geist einer Stadt widerspiegeln.
 
Flecks Stadtbilder bedienen sich also selten des Panoramas, sie sind dagegen gelegentlich als Serien angelegt. Diese Serien bewegen sich manchmal von offensichtlicheren, erkennbareren Motiven zu abstrahierteren, malerischen Themen. In der Gesamtheit der Stadtbilder erkennt man daher erst Ralph Flecks inhaltlichen Ansatz. So verstanden ist die „Sammlung” dieser Stadtbilder eine übergeordnete Version des Panoramas des achtzehnten Jahrhunderts, ein Mosaik, das sich aus seinen scheinbar beziehungslosen Teilen wieder zu einem dokumentarischen Ganzen fügt. Dieses Dokument hält die physiognomischen Eigenschaften der jeweiligen Städte fest, ohne dabei auf ihre soziokulturellen Fragen oder Probleme einzugehen. Melancholie, Anklage oder Kritik hat sich Fleck lediglich in der Bilderserie des zerstörten Deutschlands (siehe Katalog Städte, 1997) erlaubt. Sie wurden aus der normalen Augenhöhe eines sich auf der Straße befindlichen Betrachters gefasst.
 
Die aus der Luft gewonnenen Perspektiven auf die Städte lassen kein menschliches Einzelschicksal an den Betrachter heran, weisen auf keine ökologischen Herausforderungen hin, zeigen auf keine städtebaulichen Wunden, sondern lassen die Städte sich selbst sein. Flecks Stadtbilder konzentrieren sich auf das Phänomen des Stadtbauens, auf die Charaktereigenschaften, die sich mit geringfügigen Veränderungen der baulichen und räumlichen Strukturen ergeben. Diese Eigenschaften durch die Malerei wiederzugeben ist angesichts der vielen Medien, die sich bereits mit den Problemen der Städte auseinandersetzen, anspruchsvolles Ziel genug. In einer Zeit des Verschwindens von kulturellen und staatlichen Grenzen ist die Eindringlichkeit, mit der Fleck die Eigenschaften der jeweiligen Städte in seinen Bildern aufspürt, wohl auch das Konzentrat, auf das sich ein Künstler weise beschränken sollte.
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